Die Jungen aus der Feldstrasse, Teil 07


Tiscio hatte unterdessen erheblich weniger Erfolg. Er konnte natürlich nicht wissen, wie leicht es für seine Freunde gewesen war, die Adresse herauszubekommen. Für ihn hingegen hatte die Frage nach dem Wohnort des Toten nahezu katastrophale Folgen.
"Wozu möchten sie das wissen, Wachtmeisteranwärter Canil?" Die Frage hätte ihn innehalten lassen sollen. Stattdessen antwortete er etwas naiv mit der Wahrheit.
"Herr Unterschnitt will dort Erkundigungen einholen, wegen des Mordes, ob er dort vielleicht Hinweise auf den Mörder finden kann." Tiscio erkannte in diesem Moment schon, wie das Gesicht von Oberwachtmeister Beulfung versteinerte. Trotzdem übersah er immer noch die die Wolken, die das aufkommende Gewitter ankündigten.
"Herr Unterschnitt will die Adresse wissen?" Tiscio nickte.
"Und ein Mann der Metrowacht macht natürlich alles, was Herr Unterschnitt von ihm erwartet." Beinahe hätte Tiscio erneut genickt, konnte sich jedoch gerade noch davon abhalten. Wenn schon nicht sein Verstand mit der Situation mithalten konnte, sein Instinkt ließ ihn nicht im Stich. Nicht auszumalen, wie Beulfung reagiert hätte, wenn Tis auch noch diesen letzten Fehler begangen hätte.
"Für wen arbeiten sie eigentlich, Anwärter Canil? Für Herrn Unterschnitt? Oder sind sie doch bei der Metrowacht angestellt? Können sie mir das beantworten?" Spätestens bei der zweiten Frage war es im Raum still geworden. Tiscio sackte ein wenig in sich zusammen und brachte ein klägliches "Für die Metrowacht, Herr Oberwachtmeister."
"Für die Metrowacht! Sie wissen es also noch!" Inzwischen war der stämmige Mann aufgestanden. "Dann wissen sie vielleicht auch noch, was sie zu tun haben, bevor ihr Dienst endet?" Tiscio nickte benommen und ging zu einem der Tische, wo er begann, seinen Bericht zu schreiben.

Malandro und Gunnar hatten unterdessen vom Bibliothekar der Universitätsbibliothek erfahren, dass Professor Ulfhaus nur noch zwei Bücher auf seiner Karte stehen hatte, obwohl der graubärtige Mann es kaum so sah.
"Und wie bekomme ich sie jetzt wieder? Der Herr Professor, möge Hetrados seiner Seele gnädig sein, war als er noch lebte nicht besonders gut darin, Bücher pünktlich zurückzugeben. Und ich weiß ja auch, dass man nicht schlecht über Tote reden soll. Trotzdem ist es ein Jammer. Ein Jammer ist es und ich kann es nicht anders sagen, auch eine Schande. 'Der Atlas der Meere zwischen den großen Kontinenten Yakirl und Orfinlir' ist vielleicht nicht das beliebteste Buch in dieser Sammlung, aber trotzdem wird es uns schmerzlich fehlen, denn andere Atlanten kommen kaum an seine Genauigkeit heran. Und 'Magische Phänomene und Orte unserer Welt', nun, den haben gerade junge Studenten immer wieder gerne angesehen. Ich war mir zwar nie ganz sicher, in wie weit die Illustrationen tatsächlich der Wahrheit entsprachen. Einiges fand ich schon immer sehr unwahrscheinlich. Aber wer bin ich schon, dass ich so etwas beurteilen könnte. Man kommt ja einfach nicht raus, wenn man sich um eine so große Sammlung kümmern muss ..." Der Bibliothekar setzte seine Tirade sicherlich noch fünf Minuten fort, immer in jenem leisen Tonfall, den er normalerweise verwendete, um allzu gesprächige Besucher seines Reiches zur Ruhe zu ermahnen.
Als sie sich endlich unter der ernstgemeinten Zusicherung verabschiedet hatten, dass sie bei ihrer Suche auch versuchen würden, die verlorenen Bücher ausfindig zu machen, atmeten sie vor der schweren Eingangstür zu den Bücherhallen erst einmal durch.
"Ich sehe, dass die Universität ihre eigenen Gefahren hat. Und die Mörder scheinen nicht die größte zu sein." Sein Grinsen verschwand schnell wieder, als er Gunnars Gesichtsausdruck bemerkte und begriff, dass seine Worte gerade von seinem Freund verkehrt aufgefasst werden konnten. Betrübt folgte er dem jungen Studenten ein weiteres Mal zum Büro des Ermordeten, um dort nach den vermissten Büchern zu suchen. Diesmal fanden sie jedoch die Türen verschlossen vor.
"Hier können wir wohl heute nichts mehr ausrichten."
"Is' sowieso Zeit, dass wir Tis treffen, nich'?"
"Dann auf zum Eingang."
Allerdings mussten sie dort noch eine halbe Stunde warten, bis ihr Freund endlich erschien. Er hatte sich umgezogen, denn wenn er einen Rüffel erhielt, dass er als Metrowächter zu viel für Unterschnitt tat, dann war es wohl nur folgerichtig, die Uniform abzulegen, wenn er seinen Freunden helfen wollte, auch wenn er es nur für einen Abend tat.
"‘tschuldigung, habe die Adresse nicht bekommen. Habt ihr noch was zu tun, oder woll'n wir zu Unterschnitt, um ihm Bericht zu erstatten?"
"Du hast sie vielleicht nicht, aber Liweg war so freundlich, uns die Adresse zu geben."
"Liweg?"
"Der Assistent."
"Ach, der Schnösel. Prima, da hätte ich mir einiges ersparen können." Und während Tiscio ihnen auf dem Weg zum Studiosusstieg von seinem Erlebnis auf der Wacht berichtete, bedauerten sie ihn angemessen.

Sie zogen die einzige Klingel des Hauses und mussten ein wenig warten, bis ihnen eine ältere Frau in Hausmantel und Schürze öffnete. Ihre Augen musterten einen nach dem anderen, zuerst Tiscio, der ordentliche, wenn auch abgetragene Straßenkleidung trug, anschließen Malandro, dessen Kleidung ebenfalls nicht mehr die jüngste aber aus besserem Stoff gefertigt war, und zuletzt Gunnar, der den alten Studentenanzug seines Vaters trug. Er war niemals schick gewesen, wirkte jetzt jedoch, als hätte sich jemand im Jahrzehnt vertan.
"Womit kann ich euch behilflich sein?"
"Guten Tag, gnädige Frau. Wir möchten das Zimmer von Herrn Professor Ulfhaus untersuchen." Gunnar hatte sich zu einer Antwort genötigt gefühlt, weil ihr Blick am Ende an ihm hängen geblieben war. Tiscio hätte ihm am liebsten einen Hieb an den Hinterkopf gegeben.
"Was wollt ihr? Ich frage besser gar nicht, wie ihr auf eine solche Idee gekommen seid. Aber sie ist geschmacklos und ich denke, ich werde besser die Metrowacht holen, wenn ihr nicht bei drei von meiner Türschwelle verschwunden seid."
Die beiden älteren warfen ihrem Freund einen strafenden Blick zu. Als die Vermieterin jedoch plötzlich "eins" sagte, kramte Malandro das Schreiben hervor, welches er von Unterschnitt erhalten hatte, und hielt es der Frau vor die Nase. Sie stutze, als sie die Unterschrift sah. Dann las sie das gesamte Schreiben, bis sie erneut beim Blick auf die Unterschrift stutzte.
"Ihr arbeitet für Herrn Unterschnitt?" Sie nickten eifrig. "Hätte ich das Gewusst. Ich meine, ich wusste ja noch nicht einmal, dass Herr Unterschnitt sich mit dem Mordfall befasst. Die Metrowacht hat nichts dergleichen erwähnt. Wer hat Herrn Unterschnitt denn Beauftragt? Ich meine, das kostet doch auch Geld. Aber andererseits ist das ja auch nur angemessen. Schließlich war er ein Professor."
"Dekan Baheim."
"Ach der Dicke Mann. Das hätte ich nicht erwartet. Der Herr Professor hat nicht viel Gutes über ihn zu berichten gehabt."
Mit Panik in den Augen sahen sich Malandro und Gunnar an. Zwei solche Plappermäuler an einem Abend waren schwer auszuhalten. "Können wir jetzt das Zimmer untersuchen", unterbrach Mal daher den Wortstrom, auch wenn er wusste, dass es sich nicht gehörte. Aber wenigstens hatte er nicht "getze" gesagt.

Das Zimmer des Professors war noch unaufgeräumter als sein Büro in der Universität. Es war sauber, dafür sorgt offensichtlich die Vermieterin. Sie hatte jedoch immer um die Bücher, Karten und einzelnen Blätter herumgeputzt. Die Mitte des Wohnraums wurde von einer großen Holzkiste bestimmt, wie man sie zum Transport zerbrechlicher Wahren verwendete. Der Deckel der Kiste stand an die Vorderseite angelehnt und darum herum lagen Bücher mit einem Einband, der dem des Tagebuches der Trenai entsprach, welches sie im Arbeitszimmer in der Universität gefunden hatten. Sie waren in mehreren Stapeln aufgestellt und zwei von ihnen befanden sich auf der Schreibplatte des aufgeklappten Sekretärs, der an der Wand gegenüber der Tür zum Schlafzimmer stand.
Gunnar hockte sich sofort neben die Kiste und nahm ein Buch nach dem anderen in die Hand. "1327, 1328, 1329. Eine ordentliche Schreiberin. Jedes Jahr ein neues Tagebuch."
Unterdessen warf Tiscio einen Blick in die Kiste hinein und entdeckte, dass auch ein paar andere Bücher darin enthalten waren, die ein anderes Format und auch einen anderen Einband besaßen. Malandro hingegen stand inzwischen neben dem Sekretär und zog triumphierend einen Folianten unter den anderen Büchern hervor.
"Und hier haben wir auch die magischen Phänomene."
Er schlug das schwere Buch auf und seine Freunde gesellten sich zu ihm. An mehreren Stellen waren Zettelfetzen mit Vermerken eingelegt, die sie schnell zu einer Seite führten, die eine Abbildung eines Schiffes zeigte, wie es in ein wirbelndes Loch im Meer gezogen wurde. "Der Mahlstrom", las er vor. "Unweit der Küste des geheimnisvollen Kontinents Ka-uz gelegen, dreht sich der Mahlstrom. eines der großen Wunder unserer Welt. Unzählige Schiffe hat sein Sog in die Tiefe gerissen. Seeleute, die diesem Unheil entkommen konnten, berichten, dass seine Strömung Schiffe bereits fünfzig Seemeilen, bevor man ihn zu Gesicht bekommt, vom Kurs abbringt. Es heißt, dass weder Fisch noch Boot seiner Anziehung entkommen kann, sobald es sich auf weniger als fünf Meilen genähert hat. Schlechterdings finden sich kaum Forscher, die bereit sind, diese Angabe zu überprüfen. In alten Zeiten, als die Welt noch von dämonischen Kräften beherrscht wurde, hielt sich die Legende, dass etwas, dass in den Schlund des hungrigen Strudels geworfen wurde, dort vollständig und endgültig vernichtet wird. Angesichts der Kraft des Wassers fällt es nicht schwer, diese Behauptung zu glauben. Verschiedene arkane Schriften weisen besonders darauf hin, dass der Mahlstrom daher der beste Ort wäre, um sich ketzerischer und verfluchter Artefakte für immer zu entledigen, da selbst die dämonische Kraft der Magie in ihm zermahlen wird. Allerdings gibt es auch andere Stimmen, die versichern, alles, was im Mahlstrom verschwände, später an einer anderen Stelle auf dieser Welt wieder auftauchte, als wäre es wieder ausgespuckt worden. Keine dieser Quellen konnte jedoch angeben an welchem Ort ein solches Wunder geschehen sein sollte, noch konnte jemals ein Beweis für diese Behauptung vorgelegt werden. Daher wird diesen Berichten kein Glaube geschenkt."
Gunnar nahm Malandro das Buch aus der Hand und blätterte an seinen Anfang. Wenig später fand er, was er suchte. "Gaivar Vellhimmen. Kenne ich nicht. Übersetzt von Ulfgar Versonrich. Erste Auflage 1782. Schon recht alt."
"Warum ist das wichtig."
"Naja, wenn es inzwischen neue Forschungen gibt, dann finden wir natürlich nichts darüber. Und immerhin ist es über achtzig Jahre alt."
"So wie sich das anhört, wird es kaum jemanden geben, der sich daran gewagt hat, etwas darüber herauszubekommen."
"Ich weiß nicht. in den letzten achtzig Jahren hat sich viel getan in der Seefahrt. Vor allem haben wir inzwischen zuverlässige Dampfschiffe."
"Trotzdem. Wer wäre schon so verrückt." Als Tiscio das letzte Wort ausgesprochen hatte, brauchten sich die drei nicht erst lange anzusehen, um fast gleichzeitig: "Der Neuschaffensclub" zu sagen. Es hätte natürlich noch die Gilde gegeben, jene Männer, die sich für abenteuerliche Fahrten anheuern ließen, um Ruhm und Geld zu ernten - wobei letzteres deutlich höheren Wert besaß, denn sie waren meist Arm. Die Neuschaffener hingegen gehörten ausnahmslos zum Adel, wenn schon nicht zum Blutsadel, dann doch zu dem, der mit Geld kommt. Sie als verrückt zu bezeichnen war daher natürlich verkehrt. Sie waren vielleicht etwas exzentrisch, aber niemand, der viel Geld besaß wurde jemals nach Schlechtorf eingeliefert und konnte demzufolge auch nicht verrückt sein. Dieser Haufen gelangweilter Herren hatte nicht nur das Geld, sondern auch das Interesse, die seltsamsten Gegenden der Welt aufzusuchen.
Wie man jedoch an jemanden aus diesem illustren Kreis herankam, um ihn zu befragen, wusste keiner von ihnen.

Die Jungen aus der Feldstrasse